Zeichnung: Blick von der großen Freitreppe der Hauptbücherei Wien auf den überdachten Urban-Loritz-Platz

Weihnachtszauber in der Hauptbücherei

2.12.2019

Ich hatte immer schon das Gefühl, dass in den Planen, die über weite Teile des Urban-Loritz-Platzes aufgespannt sind, als Schutz vor Regen, Sonne und Schnee, irgendetwas Besonderes steckt. Sie sehen für mich so aus, als hätten sich die Architekten bei ihrem Entwurf von Fledermausflügeln inspirieren lassen. Eines Nachts, als mich mein Heimweg wieder einmal unter den Planen hindurchführte, lernte ich dieses Etwas kennen.

Schon von weitem fiel mir auf, dass heute etwas an dem Dach anders war als sonst. War der Platz nicht sehr viel dunkler? Als ich dann direkt unter dem Dach stand, brannte tatsächlich kein einziger der Scheinwerfer, die die Planen von unten beleuchten sollten. In den Imbissständen, in denen sich um diese Zeit normalerweise Kebabspieße drehten und Würste brutzelten, war es stockfinster. Und ging da nicht ein Zucken durch die Plane? Und jetzt wieder?

Da spürte ich plötzlich ein Zupfen an der Hand. Neben mir stand ein kleines Mädchen mit einer seltsamen Haube auf dem Kopf, deren Augen in der Dunkelheit zu mir herauffunkelten. "Komm mit", sagte das Mädchen und zog mich an der Hand mit sich fort. Die seltsame Kopfbedeckung des Mädchens hatte einen langen Schweif, an dessen Ende ein roter Stern blinkte wie das Signallicht eines Flugzeugs. "Halt dich gut fest!", rief sie mir zu und zu meinem großen Schrecken hoben wir wenige Augenblicke später vom Boden ab und stiegen wie ein Heißluftballon in die Höhe.

Magischer Flug

Wir umflogen die Planen, stiegen höher und höher und als wir das Dach mit seinen Flügeln, Spitzen und Zacken zur Gänze überblickten, forderte mich das Mädchen auf, den blinkenden roten Stern am Ende ihrer Zipfelmütze zu drücken. Als ich das getan hatte, begannen die Planen unter uns zu glimmen wie Kohlen, die noch schwach glühen und in die ein Windhauch fährt. Und mit einem Mal löste sich aus den Verankerungen ein bunt glitzernder Drache, der schnurrte wie ein Kater und uns mit seinem freundlichen Gesicht unternehmungslustig betrachtete. "Lass uns beginnen", sagte das Mädchen zu ihm, "wir haben nicht viel Zeit. Und spar dir dein Glitzern für die Bücher auf!"

Während wir uns auf dem Rücken des Fabelwesens niederließen, das sein Glitzern nun abgestellt hatte, erklärte mir das Mädchen, woran ich hier die große Ehre hatte teilzunehmen: "Einmal im Jahr vor Weihnachten sausen der Bücherdrache und ich durch die Stadt und benetzen alle Bücher mit Glitzerstaub. Eine besonders große Portion bekommen dabei die Bücher für Kinder ab." "Und-und-und", stotterte ich, vor Aufregung ganz durcheinander, "w-w-was be-bewirkt dieser Gli-Glitzerstaub?" "Lass dich überraschen!", rief das Mädchen und gab dem Drachen mit einem lauten Pfiff das Kommando, loszufliegen. Der Drache schnurrte vergnügt, wedelte mit dem Schwanz und setzte sich mit unbeholfenem Strampeln in Bewegung. Bald schon glitt er wendig wie eine Schwalbe durch die Luft, zog aus Überschwang ein paar große Kreise über dem Platz und stürzte sich dann auf Zuruf des Mädchens senkrecht in einen der Lüftungsschächte ins Innere der Wiener Hauptbücherei, die am Urban-Loritz-Platz beheimatet ist.

Der Zauber der Bücher

Grau und fahl breiteten sich um uns die langgestreckten, menschenleeren Räume der Bücherei aus. Dort und da fiel durch Schlitze und Luken Licht von der Straße herein. Und wieder ertönte ein schriller Pfiff und der Drache sauste wie ein Sturmwind durch die Gänge, wirbelte die Bücher aus den Regalen und stieß dabei einen gleißend hellen, bunten Staub aus, der die Bücher wie es schien zum Leben erwecken konnte. Denn sie flatterten mit ihren Blättern wie aufgeschreckte Vögel, und nicht nur das, auch die Figuren der Geschichten schwirrten, in bunten Farben schillernd, aus dem Inneren der Bücher. Sie reckten sich und streckten sich, schnitten lustige Grimassen, drehten sich und tanzten, zwickten sich und plauderten miteinander in vielen verschiedenen Sprachen, ehe sie verstummten und erstarrten und von den Büchern wieder eingefangen wurden. Sie schnappten nach ihnen wie Fische nach ihrem Futter! Und wenn sie alle ihre Figuren wieder beisammenhatten, flogen die Bücher wieder zurück in ihre Regale.

Nachdem wir auch den letzten Winkel der Hauptbücherei mit unserer Zauberei aufgefrischt hatten, schraubten wir uns durch den Lüftungsschacht wieder nach oben, flogen auf meine Bitte hin noch hinüber zum Westbahnhof, die Mariahilfer Straße hinunter und wieder zurück zum Urban-Loritz-Platz, wo wir Abschied nahmen, auch wenn ich noch gerne die ganze Nacht hindurch mit den beiden weitergeflogen wäre. Benommen, glücklich und traurig sah ich dem Bücherdrachen und seiner Gefährtin, die am Nachthimmel verschwanden, hinterher.

… und der Menschen

Als ich dann am nächsten Tag die Hauptbücherei besuchte – die Planen spannten sich wieder wie gewohnt über den Platz und fingen den Regen auf, der vom Himmel tröpfelte –, suchte ich erst gar nicht nach den Spuren des Glitzerstaubs oder der speziell positiven Wirkung, die er auf die Leserinnen und Leser in der Bücherei haben mochte, auch wenn mich diese Versuchung auf Schritt und Tritt begleitete. Ich sah den Büchern nur einfach dabei zu, wie sie den Menschen hier Freude machten, sie faszinierten, in ihren Bann zogen, ins Gespräch brachten, ihr Wissen erweiterten und ihr Verständnis füreinander vertieften und das in vielen Sprachen. Schöner konnte die Weihnachtszeit nicht beginnen.

Interessante Links zur Geschichte

Standort der Hauptbücherei – wien.at-Stadtplan

Hauptbücherei am Urban-Loritz-Platz  
Büchereien Wien
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Historische Infos im Wien Geschichte Wiki:

Zeichnung: Sandra Biskup
Text: Simon Kovacic